Kentern - wie kann ich mich retten?
Keiner mag es, aber es passiert immer wieder: das Boot kentert oder läuft voll, man fällt ins Wasser. Bei kalten Temperaturen im Winter kann solch eine Situation schnell lebensbedrohlich werden. Wohl dem, der eine Rettungsweste trägt und die richtige Entscheidung trifft, um der Gefahr zu entgehen.
Als die fünf Ruderer den Frachter sahen, war es schon fast zu spät. Ein vergebliches Ausweichmanöver, dann krachte es bei Rheinkilometer 679! Ein dicker, mit Containern beladener Frachter rammte das Ruderboot, die Insassen stürzten ins sieben Grad kalte Wasser. Burghard Schack vom Kölner Ruderverein erinnert sich an die Havarie, die nun schon fast zehn Jahre zurückliegt: „Wir hatten alle Rettungswesten und Kleidung im Zwiebelprinzip an.“ Die Westen hielten die Ruderer oben, die Klamotten wärmten zumindest anfangs ein wenig. Die zwei verbliebenen Ruderboote kamen den Gekenterten zu Hilfe, halfen diesen in die Boote. Am Steg warteten bereits Polizei und Feuerwehr samt Rettungswagen. Nach einem Check dann die Erleichterung: Keine Verletzungen, keine gravierenden Unterkühlungen. Für die inzwischen bibbernden Havaristen gab es eine heiße Dusche im Vereinshaus.
Nicht immer gehen Unfälle, Havarien oder Kenterungen so glimpflich aus. Nicht immer sind rettende Helfer in der Nähe. Doch Kentern kann man überall und dann hängt es von der Situation ab, wie sich der oder die Rudernden aus ihrer Notlage befreien. Im Grunde gibt es nach einer Kenterung vier Möglichkeiten:
am Boot bleiben,
ins Boot zurückklettern,
ans Ufer schwimmen.
den Körper aufs Boot ziehen.
Wenn ein Begleitboot da ist, jemand die Kenterung gesehen hat, Hilfe in der Nähe ist, dann ist es ratsam, am Boot zu bleiben und auf Hilfe zu warten.
Wenn man Erfahrung hat und man sicher weiß, dass man in der Lage ist, ins Boot zurückzuklettern, ist es ratsam, ins Boot zu klettern, um aus dem kalten Wasser zu kommen.
Wenn man sich nicht sicher ist, ob man ins Boot zurückkommt und keine Hilfe zu erwarten ist, dann sollte man zum Ufer schwimmen. Der Weg dorthin darf nicht weit sein.
Wenn die beiden ersten Optionen ausscheiden und das Ufer zu weit entfernt ist, bleibt noch, den Körper so weit wie möglich aus dem kalten Wasser auf das Boot zu ziehen und ggf. mit den Beinen versuchen, das Boot Richtung Ufer zu bewegen.
Sollte man eine Rettungsweste tragen?
Bei kaltem Wasser eine Rettungsweste zu tragen, ist richtig. Mit einer Rettungsweste erhöht man die Chancen, im kalten Wasser zu überleben. Luft drängt im Wasser nach oben, das ist das einfache physikalische Prinzip der Rettungsweste. Das Luftpolster stabilisiert den Gekenterten in der Aufrechten, hält den Kopf über Wasser und entlastet durch den Auftrieb den Gekenterten, verzögert also das Ermüden des Körpers. Eine Rettungsweste schützt dagegen nicht vor Auskühlung. Dennoch: Es gibt keinen Grund, keine Rettungsweste zu tragen. Die Frage ist, welche Art von Rettungsweste man tragen sollte. Es gibt:
Automatische Rettungswesten, die sich bei Kontakt mit Wasser automatisch aufblasen und so unmittelbar Schutz bieten.
Halbautomatische Rettungswesten, die im Wasser vom Gekenterten per Handzug ausgelöst werden müssen, damit sie sich aufblasen.
Feststoffwesten, deren spezielles Material für Auftrieb im Wasser sorgt.
Sind Feststoffwesten für Ruderer überhaupt geeignet?
Aus Kostengründen und wegen der geringeren Wartungsintensität entscheiden sich zum Beispiel Schulen gern für Feststoffwesten. Sie haben keinen so großen Auftrieb, für jüngere und leichte Personen reicht er jedoch aus. Der große Nachteil der Feststoffwesten ist ihr Volumen. Sie sind sperrig und schränken oftmals die Ruderbewegung ein, stören also beim Rudern. Es gibt aber inzwischen Feststoffwesten, die deutlich kleiner sind und auch das Rudern nicht übermäßig beeinträchtigen. Hier gilt wie im übrigen für alle Rettungswesten: Jeder muss seine Rettungsweste anziehen und ausprobieren. Es gibt tatsächlich große Unterschiede im Trage- und Bedienungskomfort der verschiedenen Westen und Westenarten.
Sollte man am besten eine automatische Rettungsweste tragen?
Automatik bedeutet, dass sich die Luftkammer der Weste beim ersten Kontakt mit dem Wasser automatisch aufbläst. Dies ist wichtig für den Fall, wenn der Gekenterte das Bewusstsein beim Eintauchen ins Wasser verliert. Dann hilft die Weste, den Kopf über Wasser zu halten und den Gekenterten vor dem Ertrinken zu bewahren. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein Gekenterter bei Bewusstsein bleibt, die Gefahr besteht eher darin, dass der Körper auskühlt und wichtige Körperfunktionen wie die Muskelkraft nachlassen. Ist der Gekenterte bei Bewusstsein verhindert bzw. erschwert eine automatische Rettungsweste die beiden anderen lebensrettenden Optionen. Denn der Weg zurück ins Boot ist bei aufgeblasener Rettungsweste so gut wie verbaut. Und: Auch Schwimmen ist bei aufgeblasener Rettungsweste kaum möglich. Brustschwimmen geht gar nicht, auf dem Rückenschwimmen geht, ist aber den meisten nicht vertraut und mit seitlichen Schwimmbewegungen kommt man nicht gut voran und es kostet mehr Kraft. Fazit: Eine automatische Rettungsweste ist bei Bewusstseinsverlust der einzige Helfer, sie erschwert bzw. verhindert allerdings, ins Boot zurückzuklettern oder ans Ufer zu schwimmen.
Ist die halbautomatische Rettungsweste die bessere Alternative?
Natürlich hängt dies immer vom konkreten Fall ab. Halbautomatisch heißt, die Rettungsweste muss manuell ausgelöst werden. Zieht man am Handzug löst die Gaspatrone das Aufblasen der Luftkammern automatisch aus. Der Nachteil ist der beschriebene Vorteil der Automatik: Verliert der Gekenterte das Bewusstsein, kann er den Handzug nicht bedienen, die Rettungsweste bleibt ohne Funktion: Der Vorteil: Der Gekenterte behält alle drei Optionen: Ist der Weg zum Ufer weit und Hilfe in der Nähe, kann er am Boot bleiben und die Rettungsweste auslösen. Sieht er sich in der Lage, zurück ins Boot zu steigen, sollte er dies tun und die Rettungsweste deshalb nicht auslösen. Bleibt ihm der Weg zum Ufer als einzige oder beste Möglichkeit, löst er ebenfalls die Rettungsweste nicht aus, sondern nimmt den Weg zum Ufer.
Sollte man überhaupt ans Ufer schwimmen?
Niemand sollte sich täuschen. Ein Großteil der tödlichen Unfälle geschieht in Ufernähe. Selbst kürzere Entfernungen zum Ufer sind unter Kältebedingungen kritisch. Die Schwimmfähigkeit lässt in kaltem Wasser rapide nach, weil die Muskeln erlahmen. Die Entscheidung, ans Ufer zurückzuschwimmen, hängt ganz stark von der tatsächlichen Überlebenssituation ab. Wer auf dem Rhein bei strömendem Wasser mit Wellengang kentert, wird sich anders entscheiden müssen, als jemand, der im geschützten Kanal in Ufernähe kentert. Schwimmen kann die erste Option sein, sie ist auf jeden Fall die letzte, wenn die anderen Rettungswege nicht möglich sind.
In den Medien wird immer wieder eine ältere Untersuchung von Ruderern und Kanuten in Kanada zitiert, die belegt, dass viele tödliche Unfälle in Ufernähe passieren und vom Schwimmen ans Ufer ausdrücklich gewarnt wird. Auch der Unfallmediziner Dr. Andreas Bartsch, der den nachfolgenden Artikel zum Einerrudern im Alter verfasst hat, weist darauf mit Recht hin. Dennoch: Es gibt keine Statistik, die sämtliche Kenterungen im Winter erfasst und aufzeigt, auf welche Weise sich die Gekenterten gerettet haben, sondern es gibt Auswertungen von Unfallsituationen. In der täglichen Lebenspraxis – und das zeigt bereits die keineswegs repräsentative Befragung von rudersport – dürfte der schnelle, direkte Weg zum Ufer eine viel größere Relevanz haben unter den lebensrettenden Maßnahmen.
Welche Entscheidung ist die richtige?
Eines vorweg: Es gibt nicht die richtige Vorgehensweise, wie man sich im Kenterfall zu verhalten habe. Es gibt immer nur die Option, sich für die Möglichkeit mit der höchsten Überlebenswahrscheinlichkeit zu entscheiden. Und diese Entscheidung muss unter Zeitdruck gefällt werden und hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab: von den Wasserbedingungen, von den Wetterbedingungen, von den Rettungsbedingungen, von der Einschätzung der Situation und der eigenen körperlichen Verfassung. Es macht eben einen großen Unterschied, bei null Grad im Rhein zu treiben oder bei acht Grad im ruhigen Kanal drei Meter neben dem rettenden Ufer. Und da grundsätzlich die jeweilige Situation maßgeblich ist, sollte der Ruderer dafür sorgen, dass ihm möglichst viele Rettungswege offenbleiben. Dies spricht gegen eine automatische Rettungsweste. Um zum Beispiel ins Boot zurückzukommen, muss man erheblich mehr Mühe und Kraft auswenden oder man müsste sie im Wasser ausziehen bzw. umständlich Luft ablassen. Aber es ist und bleibt eine Frage der Abwägung von Gefahrensituationen. Und Ruderer müssen auch damit leben, dass keine der Entscheidungsoptionen die richtige sein kann, weil der Weg zum Ufer vielleicht zu weit ist, die Kräfte überschätzt werden, die Hilfe nicht rechtzeitig kommt. Keine der vier Varianten beinhaltet eine Überlebensgarantie.
Wie treffe ich die situativ richtige Entscheidung?
Das Schlüsselwort heißt Erfahrung. Wer noch nie gekentert ist, befindet sich urplötzlich in einer neuen, unbekannten Situation, die zu Panik und Ängsten führen kann. Wer bereits über Kentererfahrungen verfügt, kann auf sein Wissen und seine Erfahrungen zurückgreifen. Dieser Unterschied kann lebenswichtig werden, denn der Gekenterte muss die neue Situation, in die er unvermittelt geraten ist, erkennen, bewerten und entscheiden: Wenn ich schwimme, sollte ich sofort losschwimmen. Wenn ich ins Boot steige, sollte dies zügig geschehen. Kommt beides nicht infrage und ist Hilfe in der Nähe, sollte die Rettungsweste ausgelöst werden. Sich umzuentscheiden kostet Zeit, die man nicht hat. Eine ausgelöste Rettungsweste auszuziehen, um ins Boot zu kommen, ist sicherlich nicht günstig.
Welche Vorsichtsmaßnahmen gibt es?
Die Rettungsweste ist bereits eine Vorsichtmaßnahme. Dazu gehören auch ein wasserdicht verpacktes Handy für Notrufe und Geld, um ggf. per Taxi zum Bootshaus zurückzukehren. Wichtig ist auch die mentale Einstellung und das richtige Einschätzen der Ruder- und Wetterbedingungen. Beim Mannschaftrudern gehört auch dazu, sich die Frage zu beantworten, ob man mit dieser Mannschaft kentern möchte.
Eine weitere Vorsichtsmaßnahme ist funktionelle Kleidung. Sie sollte sich nicht ausschließlich nach der Lufttemperatur richten, sondern nach der Wassertemperatur. Die neue Generation von Neoprenanzügen ist atmungsaktiv und dünn und kann bequem getragen werden. Das schützt vor einem Kälteschock und der Körper kühlt im Wasser nicht so schnell aus, die Überlebenszeiten verlängern sich. Neben einer allgemeinen Vorsicht gehört auch das ufernahe Rudern dazu, das den Weg durchs Wasser im Ernstfall verkürzt. Und es gibt auch absolute Schallgrenzen: Während bei stehenden Gewässern der Eisgang dafür sorgt, dass bei Minusgraden nicht gerudert werden kann, ist das bei fließenden Gewässern möglich. Doch bei Minusgraden zu rudern ist absolut unvernünftig. Da die Überlebenszeit immer weiter Richtung Null absinkt.
Kentern sollte Routine sein
Kentererfahrungen sammelt man beim Kentern, nicht beim Philosophieren über das Kentern. Da man selten kentert, sammelt man seine Erfahrungen beim Kentertraining. Viele Ruderordnungen der Vereine beschränken sich darauf, das Tragen von Rettungswesten während der kalten Jahreszeit vorzuschreiben. Doch dies ist nur die halbe Sicherheit. Die Rettungsweste ist nur ein Baustein im Rettungsszenario. Eine genauso wichtige Aufgabe ist es, Kentererfahrungen zu vermitteln. Ruderer, die im Winter rudern wollen, sollten im Sommer unbedingt ein Kentertraining absolviert haben. Dies ist überwiegend nicht der Fall – siehe Umfrage. Viele Ruderer haben sich auch noch nie mit einer ausgelösten Rettungsweste im Wasser bewegt. Beim Kentertraining sammelt man in einer geschützten, simulierten Situation überlebenswichtige Erfahrungen, auf die man im Ernstfall zurückgreifen kann und die das Kentern zur Routine werden lassen. Nur wer schon (regelmäßig) versucht, vom Wasser aus ins Boot zu steigen und diesen Vorgang kennt und beherrscht, kann abschätzen, ob er es überhaupt im Ernstfall schaffen kann oder nur Zeit und Kraft vergeudet. Außerdem: Wer jährlich ein Kentertraining absolviert, gerät nicht so schnell in Panik, kann seine Kräfte besser einschätzen und weiß im Ernstfall genau, ob er in der Lage ist, ins Boot zurückkehren, kurz: Er kann die überlebenswichtige Frage nach der richtigen Option schneller und sicherer beantworten.
Thomas Kosinski
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