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Aktuelles zum Thema Rudersport.

Für und Wider Zentralisierung

Gründe, Prozesse, Dimensionen, Ausprägungen und Handlungsoptionen

Von Prof. Wolfgang Maennig

Im deutschen Spitzensport, auch im Rudern, wird über zentrale Trainingsstützpunkte diskutiert. Zahlreiche Verbände haben zentralisiert, indem Trainer und Athleten an einem oder wenigen Orten zusammengezogen wurden. Der DRV hat derzeit drei zentrale Stützpunkte (Potsdam, Dortmund, Hamburg/Ratzeburg). (Mehr) Zentralisierung sieht vor, dass Aufgaben gebündelt werden, welche für die Erreichung der Ziele einer Institution relevant sind.

Das Pro und Contra wird auch in der Politik sichtbar (zentralere Strukturen in Frankreich vs. Dezentralere/föderale Strukturen in Deutschland); oder in der Wirtschaft (zentrale Planorganisation wie einst in der DDR vs. dezentrale Entscheidungsfindung in Marktwirtschaften). Als Objekte der Zentralisierung gelten Entscheidungsprozesse, Produkte, Personal und Kundengruppen. Teilweise geht es dabei darum, (nur) bestimmte Objekte zu zentralisieren, während andere Aktivitäten dezentral bleiben sollen. In einigen Bereichen bedingt die Zentralisierung geradezu die Dezentralisierung in anderen: Beispielsweise führt eine Zentralisierung nach Produkten meist zu einer Dezentralisierung nach Absatzgebieten.

Als Vorteile von mehr Zentralisierung werden Synergieeffekte, Spezialisierungsvorteile und im Endeffekt Kostendegressionseffekte genannt; Doppelarbeiten und -infrastrukturen können vermieden werden. Die Entscheidungsprozesse können beschleunigt und vereinfacht sein – untergeordnete oder räumlich entfernte Stellen nehmen nicht an der Entscheidungsfindung teil. Einheitliche Konzepte und Strategien können besser durchgesetzt werden. Auch sind „Dichte-Effekte“ zu beachten: In der Regel gibt es beispielsweise aufgrund von Imitations- und Lerneffekten, aber auch aufgrund von Erfahrungsaustauschen positive Spill-Over-Effekte zwischen Menschen mit verwandten Tätigkeiten, die zu einer steigenden Produktivität der Beteiligten führen. Die Dezentralisierungstendenzen, die sich infolge der Corona-Pandemie durch Home-Working ergeben haben, stellen diese Erkenntnis jedoch teilweise infrage.

Die Riemenmänner des Deutschen Ruderverbandes sind in Dortmund "zu Hause". Foto: D. Seyb

Zu den Nachteilen gehört, dass große zentralisierte Unternehmen hohe Anforderungen an die Informations- und Entscheidungssysteme haben, weil die dezentral anfallenden Erfahrungen, Probleme und Lösungsideen an die Entscheider gelangen müssen und deshalb oft (aber nicht immer) langsamer auf externe Veränderungen reagieren. Auf regionale Besonderheiten kann weniger Rücksicht genommen werden. Durch die mit der Zentralisierung meist verbundene Standardisierung geht der Spielraum für Anpassungen an spezifische Gegebenheiten verloren. Mit Zentralisierung kann die Entfernung der Entscheider von den Belangen „der Basis“ drohen. Die nicht-zentralen Einheiten können unter Entwertung, Delegitimation und Demotivierung leiden, eventuell verbunden mit einer dort langfristig nachlassenden Aktivität. Der eingeschränkte Wettbewerb der Ideen kann langfristig zu einer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit führen, da die verringerten Kompetenzen der dezentralen Mitarbeiter deren individuelle Leistungsentwicklung hemmen können. Zentralisierung führt zu einer stärkeren Belastung der zentralen Entscheidungsträger, weil Quantität und Komplexität der Entscheidungen steigen.

Der Autor dieses Textes: Prof. Wolfgang Maennig wurde 1988 unter Trainer Ralf  Holtmeyer Olympiasieger im Achter.

Bei den von Zentralisierung (an einem anderen Ort) betroffenen Personen können u. U. familiäre Umzugs-Probleme und finanzielle Zusatzbelastung entstehen. Die Corona-Pandemie und die aktuelle China-Diskussion haben mit Ansteckungsgefahren für (zu) viele und (zu) starken Abhängigkeiten/ Erpressbarkeiten von zentralisierten Beschaffungen zusätzliche Argumente in die Diskussion gebracht. Und die Energieversorgung der Ukraine, die auf relativ wenigen großen Kernkraftwerken basiert, veranschaulicht die möglicherweise erhöhte Krisenanfälligkeit zentraler Strukturen.

Die Diskussionen im deutschen Spitzensport

Die Pro-Argumente im deutschen Spitzensport sind ähnlich: Neben den oben genannten Gründen sind dies spezifische Kostenersparnisse bei Servicefunktionen wie Physiotherapie und Biomechanik, die nur einmalig oder wenige Male vorgehalten werden müssen. Beim Skispringen und Bobfahren scheint eine gewisse Zentralisierung aufgrund der hohen Kosten der notwendigen Infrastrukturen zwangsläufig, unter anderem durch topographische Voraussetzungen.

Als Pro-Argument gilt ferner, dass Zentralisierung die gemeinsame Technikausprägung erleichtere, was besonders im Mannschaftssport wichtig sein kann. Teilweise wird postuliert, dass dezentral trainierende Athleten durch ihr soziales Umfeld und ihre Ausbildung vom Training abgelenkt werden. Zentralisierung bedeute demnach mehr Konzentration auf das Wesentliche.

„Wesentlich“ mag implizieren, dass Athleten und Funktionsträger die Bedeutung des sportlichen Erfolges und beruflicher/sozialer Belange unterschiedlich gewichten. Die meisten Athleten halten die familiäre/soziale Harmonie für dauerhaften sportlichen Erfolg für wichtig. Bezüglich Ausbildung und Beruf divergieren die Ansichten: Athleten aus einigen Milieus benötigen die volle Konzentration; für Sportler aus anderen Milieus ist Beruf/Ausbildung und Sporterfolg kein Widerspruch, sondern befruchtend: „Ausschließlich Sport“ könnte ihre Kreativität gar behindern und sportlich kontraproduktiv wirken.

Auch die Kontra-Argumente knüpfen an die Diskussionen aus anderen Bereichen an: Die Vereine und Stützpunkte, die nicht Ort der Zentralisierung sind, werden abgewertet. Die Motivation der dortigen Trainer, Funktionsträger und Institutionen können leiden. Sofern diese Arbeit ehrenamtlich geleistet wurde, müsste sie später ggf. zu Marktpreisen eingekauft und den Kosten der Zentralisierung zugerechnet werden. Für die mit der Zentralisierung verbundenen steigenden oder gar unrealistischen Anforderungen an die zentralen Mitarbeiter stehen teilweise wegen der (öffentlichen determinierten) Gehaltsstrukturen keine hinreichend qualifizierten Persönlichkeiten zur Verfügung.

Im Deutschen Ruderverbandes sorgte vor allem die Forderung für Diskussionen, dass die Skull-Männer ab Herbst 2022 bis zu den Olympischen Spielen 2024 in der Ratzeburger Ruderakademie gemeinsam leben und trainieren sollen. Manche Athleten widersetzten sich. Im Auch im Beach-Volleyball protestieren Athleten gegen eine Zentralisierung in Hamburg. Ebenso protestierten Turner, wie etwa Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen, gegen Zentralisierungspläne. Hinter diesen Protesten steht meist die Sorge, dass aus einer subjektiv ungünstigen Wahl der Zentralisierungs-Orte eine übermäßige Beeinträchtigungen der Athleten resultieren könnte.

Dimensionen und Ausprägungen der Zentralisierung

Im Sport führen viele Dimensionen und Ausprägungen dazu, dass Zentralisierung unter Umständen in verschiedenen Objekten, Spezialisierungen und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Intensitäten zielführend sein könnten:

-         Es wird diskutiert, dass für Jugendliche weniger Zentralisierung als bei Erwachsenen sinnvoll sein könnte, weil die Kosten für Familienbindungs- und Ausbildungsverlusten besonders hoch sein könnten. Zudem wird teilweise argumentiert, dass (ggf. durch Zentralisierung?) „zu früh“ erfolgreiche Athleten „ausbrennen“ und es schwerer haben können, im Spitzensport der Erwachsenen „anzukommen“.

      Zeitliche Dimension:

      im Olympiazyklus: Auch Zentralisierungsgegner haben regelmäßig wenig Beanstandungen, wenn in Olympia-Saisons Mannschaften umfangreicher zusammengeführt werden als in nicht-olympischen Saisons.

      in der Jahresplanung: Zusammenführungen einige Wochen oder Monate vor den Zielwettkämpfen sind – je nach Altersstufe – unstrittig. Eine Zentralisierung zwei Jahre zuvor wie im oben genannten Ratzeburger Fall erscheint Manchen hingegen zu viel.

      in der Wochenplanung: Zusammenführungen an den Wochenenden, egal in welchen Altersstufen, erscheinen den meisten weniger problematisch.

      Fachliche Dimension

      Männer und Frauen am selben Ort? Alle britischen Ruder trainieren in einem Vorort von London. Wenn Männer und Frauen an unterschiedlichen Orten zusammengeführt werden, könnte diskutiert werden, ob alle Disziplinen am selben Ort trainieren sollen. Dies mag auch mit der Zahl der Athleten zusammenhängen. Im deutschen Rudern hat man sich bei den Männern für getrennte „Leitstützpunkte“ für Skull und Riemen entscheiden; bei den Frauen Skull/Riemen trainieren beide Disziplinen an einem Ort.

      Selbst innerhalb einer Disziplin kann man differenzieren. Der Einer-Ruderer profitiert von Zusammenführungen weniger als ein Doppelvierer. Lothar Trawiel, langjähriger erfolgreicher Trainer der männlichen Skuller sagt, dass ein Doppelvierer rund 240.000 Ruderschläge brauche, um die Bewegungsabläufe zu harmonisieren und zu automatisieren. Weitere Schläge würden nicht mehr viele Vorteile bringen. Ökonomen übersetzen dies in das Gesetz der abnehmenden Grenzproduktivität des Inputs: Die ersten 50.000 gemeinsamen Schläge bringen sehr große Geschwindigkeitsgewinne, die nächsten 50.000 bringen ebenfalls Geschwindigkeitsgewinne, die aber geringer ausfallen als bei den ersten 50.000 Schlägen usw. Laut Trawiel seien ab 240.000 gemeinsamen Schlägen keine weiteren Geschwindigkeitsgewinne zu erwarten. Einige würden ergänzen, dass gar Umfänge bestehen mögen, ab welchen zusätzliches gemeinsames Training zu Geschwindigkeitsverlusten(!) führt. Stichworte: Übertraining und Lagerkoller.

      Es sind nicht nur Nutzen, sondern auch (zusätzliche) Kosten zu betrachten. Wobei weder Nutzen noch Kosten rein monetär zu interpretieren sind: Vielmehr steht Nutzen synonym für Vorteile, und Kosten für Nachteile. Die meisten Athleten, die gegen (zuviel) Zentralisierung opponieren, befürchten Nachteile im Ausbildungsweg oder im privaten Umfeld. Daraus wird deutlich, dass sich große Städte und Agglomerationsräume eher für Zentralisierung eignen könnten. Allerdings bieten neuere Online-Studienangebote zumindest für einige Studienfächer Chancen für kleinere Orte.

      Von besonderer Relevanz ist die Frage, wie der Ort der Zentralisierung bestimmt wird. Eine Gruppe von Determinanten ist institutionenbezogen. „Grandfathering“ mag eine Rolle spielen: Der Männer-Riemenbereich (sagen wir genauer: der Achter) hat in den letzten Dekaden erfolgreich in Dortmund trainiert. Aufgrund dieser Erfolge gilt Dortmund für die Riemen-Ruderer als „gesetzt“; dies könnte– ohne dass der Verband darüber befunden hat - bedeuten, dass wohl auch in Zukunft Medaillenchancen im Zweier und Vierer allenfalls mit verringerter Priorität verfolgt werden. Auch „verlorene Kosten“ mögen eine Rolle spielen: Ratzeburg soll vom Ruderverband als Ort der Zentralisierung festgelegt worden sein, weil der Bund viele Millionen Euro in die Sanierung der Ruder-Akademie gesteckt hat – und nicht enttäuscht werden dürfe.

Eine andere Möglichkeit der Bestimmung ist personenbezogen. Im System der DDR trainierten die Athleten an acht Stützpunkte dezentral unter Beachtung von Rahmentrainingsvereinbarungen. Außer gelegentlicher gemeinsamer Trainingslager der Spitzenkader kamen die Athleten selbst in der Olympiasaison erst im Frühjahr zu Ausscheidungsrennen zusammen, um etwa die Besetzung der Vierer und Achter zu bestimmen. Der Stützpunkt und Stützpunkttrainer, der die meisten Athleten in den Achter brachte, war automatisch in der jeweiligen Saison der zentrale Ort beziehungsweise Trainer für diese Bootsgattung. Für die umziehenden Athleten war dies mit Härten verbunden. Aber: jeder andere Zentralisierungs-Ort wäre für noch mehr Athleten mit Nachteilen verbunden gewesen.

Im deutschen Gemeinwesen wird Arbeitnehmern nur relativ wenig örtliche Flexibilität zugemutet. Im Endeffekt könnte eine personenbezogene Zentralisierung im bundesdeutschen System darauf hinauslaufen, dass Trainer (und ggf. ihre Stützpunkte) versuchen müssten, durch überzeugende Trainingsarbeit und Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen möglichst viele Athleten zu gewinnen. Nicht Geschichte und etablierte Strukturen würden zählen, sondern die aktuelle Leistungsfähigkeit der Trainer, Betreuer und des Umfeldes. Eine Zentralisierung wäre dann dauerhaft, aber die Orte würden nur temporär festgelegt werden. Karl Adam und Emil Beck stehen für Beispiele, die solche (freiwilligen) Zentralisierungsbewegungen der Athleten auslösten, obwohl vor Ort anfänglich institutionelle Strukturen fehlten. Der verstorbene
Sportfotograf Heinrich von der Becke formuliert nach dekadenlanger Arbeit: „Da, wo die guten Trainer sind, gehen die Athleten von allein hin.“ 

Die institutionenbezogene und die personenbezogene Zentralisierung können, müssen aber im Ergebnis nicht zu den gleichen Zentralisierungsorten führen. So soll es im Rudern hochqualifizierte Trainer geben, bei denen Athleten gerne trainieren, die sich aber weigern, ihren Lebensmittelpunkt in den vom Verband festgelegten Zentralort Ratzeburg zu verlegen. Wenn die Athleten zur Zentralisierung nach Ratzeburg gezwungen werden, bedeutet dies im Endergebnis, dass sie nicht vom optimalen Trainer betreut werden.

Effizienzerwägungen und Prozessorientierung

Für Ökonomen ist es relativ einfach: zusätzliche Zentralisierung ist sinnvoll, solange die (Grenz-) Kosten einer weiteren Zentralisierung deren (Grenz-) nutzen nicht übersteigen. Und es würden die Orte als Zentralen festgelegt werden, wo das Nutzen-Kosten-Verhältnis maximal wäre. Da Kosten und Nutzen im Zeitablauf veränderliche Größen sind, wären Zentralisierungsumfänge und -orte immer wieder neu zu bestimmen. Es ist zwar schwierig, die Kosten- und Nutzen-Elemente der Zentralisierung konkret zu operationalisieren und zu quantifizieren. Unmöglich ist es jedoch nicht, und es ist ein übliches Problem in ökonomisch-politischen Umfeldern, gegebenenfalls mit Näherungs-Variablen, Szenarien und Erwartungswerten zu arbeiten.

Viele wettbewerblich orientierte Ökonomen würden solche Planungen ablehnen: Für sie würde sich der optimale Zentralisierungsumfang aus dem freien Spiel der Kräfte ergeben. In Übereinstimmung mit Heinrich von der Becke denken sie, dass zu verschiedenen Zeiten – zufällig oder nicht zufällig – Trainerpersönlichkeiten an unterschiedlichen Orten heranreifen, welche die Athleten anziehen und damit eine endogene, aber zeitlich begrenzte Zentralisierung herbeiführen. Voraussetzung für einen solchen Prozess wäre ein vollständiger Wettbewerb, der nicht etwa durch (Verbands-)Vorgaben begrenzt wird, welche die Athleten auf zentrale Orte festlegen. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat den Begriff vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ geprägt. (Nur) der Wettbewerb stellt sicher, dass sich zu jedem Zeitpunkt die kreativsten Köpfe durchsetzen und somit langfristig den maximalen Erfolg sicherstellen.

Damit ist eine Nahtstelle zur Philosophie und benachbarten Disziplinen erreicht. Bei den Vertretern aus diesen Fakultäten bestimmt sich die Art und der Umfang der Zentralisierung eher nach dem Menschenbild, welches sie propagieren. Für Anhänger der „mündigen Athleten“ dürfte weniger das Ergebnis der Zentralisierungsentscheidung, als der Prozess der Entscheidungsfindung wichtig sein: ein Prozess, der nicht institutionengeleitet, sondern (in einem freien Wettbewerb ohne wettbewerbsfeindliche Machtpositionen) personendeterminiert ist, in welchem von jeder Athleten- und Trainer-Generation neue Zentralisierungs- oder Dezentralisierungs-Entwicklungen und Gleichgewichte induziert beziehungsweise festgelegt werden können.

Für Zentralisierung gibt es keine „Blaupause“

Für Viele mögen diese Gedanken-Kategorien (zu) abstrakt sein, um damit „ganz praktisch“ den optimalen Grad an Zentralisierung und deren Orte zu bestimmen. Übereinstimmen werden aber Einige damit, dass es für die Zentralisierung keine „Blaupause“ gibt, und dass Art und Umfang einer optimalen Zentralisierung von Faktoren wie Art des Sportes (Mannschafts- oder Individualsport), von der Zahl der betroffenen Athleten, von natürlichen Topographien und Ressourcen abhängen. Diese können sich im Zeitablauf immer wieder ändern.

Zentralisierung: kein Ja oder Nein

Zentralisierung im Spitzensport ist somit keine dichotome Entscheidung. Athleten und Funktionäre können strenggenommen nicht „dafür“ oder „dagegen“ sein. Vielmehr geht es um die Prozesse der Entscheidung, die Bestimmung der zu zentralisierenden Bereiche, um Zentralisierungsumfang und -tiefe, um die Frage der Revisionabilität und um die Frage nach bewusst eingeräumten Freiräumen, nachdem die Entscheidungen gefallen sind.

Im Deutschen Ruderverband könnte die laufende Zentralisierungsdebatte zunächst dadurch erleichtert werden, indem geklärt wird, wer beziehungsweise welches Gremium Art und Umfang der Zentralisierung festlegt; ebenso ist zu klären, in welchem Umfang und in welchen Bereichen eventuelle zusätzliche Zentralisierungsprozesse institutionenorientiert oder personenbezogen ablaufen sollen.

Der Transparenz kommt dabei eine wesentliche Rolle für die Akzeptanz zu. Entscheidungsgremien, -verfahren und -gründe sowie die dahinterstehenden Annahmen sollten hinreichend transparent werden. Eintretende Härten sind für die Betroffenen besser akzeptabel, wenn die Gründe für die Entscheidung nachvollziehbar sind. Für angemessene Widerspruchsmöglichkeiten Unzufriedener ist zu sorgen.

Es ist zu fragen, wie sichergestellt werden kann, dass hinreichend qualifizierte, kompetente und akzeptierte Persönlichkeiten in den entscheidenden Gremien arbeiten und welche Rolle die Athleten im Zentralisierungs-Prozess spielen, wenn dieser nicht personen-, sondern institutionenbezogen ausgerichtet ist. Die Sportler sind einerseits die Meistbetroffenen und in vielerlei Hinsicht besonders dicht an den vielfältigen Kriterien, welche die Entscheidung bestimmen können – oft dichter als Funktionsträger. Allerdings könnten Athleten die Zukunft unter Umständen stärker abdiskontieren als gute Funktionsträger, die in Dekaden denken. Und: Funktionsträger sind in der Regel direkt oder indirekt demokratisch legitimiert; Demokratie kann aus Sicht der Athleten ihren Preis haben.  

Die festgelegten Zentralisierungsstrukturen sollten so gehandhabt und kommuniziert werden, dass sie von den Athleten als attraktives Angebot, und nicht als demotivierender Zwang wahrgenommen werden. Und es ist sicherzustellen, dass Zentralisierung nicht dazu führt, dass unangemessene und ineffiziente Machtpositionen aufgebaut werden.

Es könnte sich auch ergeben, dass eine starke Zentralisierung im Elitebereich zur Vermeidung demotivierender Wirkungen „in der Ebene“ nach einer weitgehenden Dezentralisierung im Nachwuchsbereich ruft – eventuell um den Preis dort verringerter internationaler Erfolge. Dezentralisierung alleine könnte allerdings schon zu spät kommen; vielmehr könnten deutliche Aufbauhilfen an der Vereinsbasis notwendig sein. Helmut Digel diskutiert anhand „seiner“ Leichtathletik, ob es eines neu zu konzipierenden Projekts „Basis-Leichtathletik“ in den bestehenden Vereinsstrukturen bedürfe, bei dem es auch um die Neugründung von Kinder- und Jugendabteilungen gehen muss. Es könnten „Start-up“-Initiativen mit einem Anreizsystem für die Gründer von neuen Trainingsgruppen sinnvoll sein.

Im wohlverstandenen Interesse der Sportarten ist eine hinreichende Flexibilität in die Zentralisierungskonzepte einzubauen, die sicherstellt, dass die Zentralisierungsorte in hinreichendem Abstand hinterfragt werden. Es sollten Verfahren diskutiert werden, mit denen die Entscheidungen objektiv und laufend anhand der sportlichen Ergebnisse bei den Zielwettkämpfen evaluiert werden.

Und schließlich sollte diskutiert werden, wie auch in Perioden, in denen Zentralisierungsumfänge und -orte festgelegt sind, eine Flexibilität für Bedürfnisse der Athleten verbleibt. In einer offenen Gesellschaft mit unterschiedlichen Persönlichkeiten könnte diskutiert werden, wie für alle Athleten – sowohl für die, die sich in zentralen Strukturen wohl fühlen, als auch für diejenigen, welche individuelle Trainingskonzepte benötigen – möglichst passgenaue Bedingungen bereitgestellt werden können, so dass sie für die Bildung von Nationalmannschaften nicht verloren gehen.

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